29.10.2020 | Europaweit einmalige Auswertungen

50 Jahre Insektenforschung am Randecker Maar/ Schwäbische Alb: Extreme Rückgänge von bis zu 97% bei Schwebfliegen

Pressemitteilung

Forschungsarbeiten auf der Forschungsstation für Vogel- und Insektenzug Randecker Maar im Kreis Esslingen (Baden-Württemberg) belegen dramatische Einbrüche bei Insekten. In einer europaweit einmaligen Langfriststudie haben Insektenkundler innerhalb von zwei Versuchsreihen Rückgänge von rund 97 % innerhalb von 50Jahren, bzw. ca 85 Prozent innerhalb einer 40jährigen weiteren Studie bei ziehenden Insekten nachgewiesen.

Die Ergebnisse stammen von der Forschungsstation Randecker Maar, die 1969 von dem Förster Dr. Wulf Gatter gegründet wurde. Sie ist die einzige Forschungsstation in ganz Europa, in der Vergleiche ziehender Insekten mit wissenschaftlichen Erfassungen vor 50 Jahren möglich sind.
„Was wir heute noch sehen, ist niederschmetternd“, so Gatter. „Eigentlich lohnt es sich gar nicht mehr, Fangreusen für Insekten aufzustellen, weil es so wenige sind, wo noch vor 40 oder 50 Jahren die Luft flimmerte von Tausenden ziehender Schwebfliegen.“

„Die Schwebfliegen haben wir mit zwei Methoden erfasst: Seit 1970 zählten wir viermal stündlich je eine Minute die südwärts ziehenden Schwebfliegen. Der Vergleich der ersten fünf Jahre ab 1970 mit den Werten der Jahre 2014–2019 zeigt bei der größten und artenreichsten Gruppe, deren Larven räuberisch vor allem von Blattläusen leben, einen Rückgang um 97% gegenüber den Ausgangswerten. Das ist noch deutlich dramatischer als der Rückgang, den unsere Kollegen im Rahmen der Krefelder Studie für den Rückgang in ca. 27 Jahren nachgewiesen haben“, kommentiert Gatter.

Ein zweite Erfassungsmethode waren am Maar konstruierte nach Norden geöffnete Insektenreusen. Sie werden bei geeignetem Wetter stündlich kontrolliert. Der Vergleich der Erhebungen von 1978–1987 mit denen von 2014–2019 zeigt über die vier Jahrzehnte einen Rückgang von rund 90 Prozent bei den Schwebfliegen-Arten, deren Larven sich von Blattläusen und weiteren kleinen Insekten und Milben ernähren.

Zwei gleichzeitig erfasste, jeweils artenreiche Gruppen, Waffenfliegen (Stratiomyidae) und parasitische Schlupfwespen (Ichneumonidae) gingen im selben Zeitraum von 35-40 Jahren um 84 Prozent bzw. 86 Prozent zurück.
„In weit über 100.000 Stunden überwiegend ehrenamtlicher Tätigkeit und ermöglicht durch insbesondere lokale und persönliche Spenden haben wir einen wohl schon historischen Rückgang der Insektenzahlen belegt. Jetzt liegt es an der Politik, einschneidende Maßnahmen zum Schutz von Insekten und unserer gesamten biologischen Vielfalt zu ergreifen“, fordert Gatter.

„Die Studie vom Randecker Maar verstärkt alle bisherigen wissenschaftlichen Forschungsergebnisse zum Rückgang der Insekten in Deutschland und weit darüber hinaus“, kommentiert der Entomologe Prof. Dr. Lars Krogmann vom Staatlichen Museum für Naturkunde Stuttgart. „Die gesammelten Daten zeigen dramatisch eine kontinuierliche Verarmung unserer heimischen Insektenvielfalt. Weltweit einmalig ist auch die Erfassung des Rückgangs von Schlupfwespen, die sich parasitisch in anderen Insekten entwickeln. Wenn die Wirtsinsekten im Bestand zurückgehen, dann sterben auch ihre Gegenspieler mit unabsehbaren Folgen für unsere Ökosysteme.“

„Dank dieser weltweit einmaligen Leistung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Forschungsstation Randecker Maar haben wir erstmals Einblicke in den langfristigen Rückgang verschiedener Insektengruppen. Für die Zukunft benötigen wir die Fortführung und damit auch die öffentliche Finanzierung von langfristigen Bestandsuntersuchungen wie am Randecker Maar, damit wir negative, aber hoffentlich künftig auch wieder positive Trends überhaupt erkennen können“, schlägt Krogmann vor.

Die Studie an den Schwebfliegen ist exemplarisch für den Verlust von Quantität und Vielfalt der Insekten generell zu werten. Als „einen katastrophalen Spiegel unseres menschlichen Umganges mit der Natur“ bezeichnet deshalb Dr. Markus Rösler als früherer Mitarbeiter der Forschungsstation und heutiger naturschutzpolitische Sprecher der Grünen im Landtag die Ergebnisse.
„Wenn Wissenschaftler uns zeigen, dass solch dramatische negative Trends nach 13 Jahren noch nicht, sondern erst nach Jahrzehnten erkennbar sind, müssen wir Monitoring dauerhaft im Haushalt absichern.“

„Die Ergebnisse von Gatter am Randecker Maar zeigen nicht die Entwicklung in Schutzgebieten auf: Denn das Maar wirkt wie ein Trichter, die dramatischen Verluste spiegeln daher die großflächige Artenverarmung in unseren Kulturlandschaften über Tausende von Quadratkilometern wider. Die im Juli 2020 vom Landtag beschlossenen Ziele und Maßnahmen zur Erhöhung von Bio-Landbau und Pestizidreduktion, zu Biotopverbund und Lichtverschmutzung, die verbesserte Ausstattung von Agrarumwelt- und Landschaftspflegemaßnahmen speziell für artenreiche Wildblumenwiesen und Streuobstwiesen als wichtige Rückzugsräume für Insekten werden wir weiter stärken müssen“, so der Naturschutzpolitiker. Dazu sollte nach Angaben Röslers auch eine Erhöhung des Naturschutzetats auf 150 Millionen Euro gehören „das wären dann gerade mal 0,3 Prozent des Landeshaushaltes von über 50 Milliarden Euro. Der Stopp des Artenschwundes wird eine der zentralen Aufgaben für die nächste Landesregierung sein müssen“, ist sich Rösler sicher.

„Die Tatsache, dass eine Schwebfliegenart, die volkstümlich als „Mistbiene“ bezeichnet wird und sich in überdüngten Gewässern vermehren kann, weniger zurückgeht während andere Schwebfliegenarten um 97 Prozent abnehmen, zeigt uns: Auch bei Überdüngung unserer Landschaften verursacht sowohl durch Verkehr wie Landwirtschaft und Industrie, müssen wir konsequenter als bisher angehen, wenn wir die Vielfalt seltener Lebensräume und Arten erhalten wollen“, lenkt Rösler das Augenmerk auf eines der vielen Ergebnisse der Untersuchung.

Hintergrund:
Am 8. August 1967 wurde Wulf Gatter mit Kollegen nahe dem Randecker Maar bei der Beobachtung von Zugvögeln Zeuge eines Naturschauspiels mit nach Süden ziehenden Insekten. Ein endloses Band Hunderttausender reflektierender Schwingen und gold- bis kupferfarben wirkender Körper wandernder Schwebfliegen.
Gatter gründete daraufhin 1969 die Forschungsstation Randecker Maar am Rand der Schwäbischen Alb. Der nach Norden gerichtete Trichtereffekt des Maars führt dazu, dass auf einer Breite von über sechs Kilometern Vögel und Insekten aus nördlichen Richtungen durch den ehemaligen Vulkantrichter von ca. 300 Meter Höhe im Vorland auf ca. 800 Meter Höhe hochfliegen und im Anflug sowie beim Durch- und Überflug gut und standardisiert erfasst werden können. Schwebfliegen gehören neben den Wildbienen zur wichtigsten Bestäubergruppe der Insekten.
Über 600 Mitarbeiter aus ganz Deutschland und Europa haben sich in den letzten 50 Jahren im Rahmen des alljährlich über 100 Tage währenden Arbeits- und Forschungsprogrammes im Spätsommer und Herbst beteiligt.